Gappohytta – All the seasons in one day

Ich sehe die Hütte. Sie verschwindet erneut zwischen schwachen Licht und Nebel. Es ist sehr spät. Ich bin so müde, so unfassbar müde. Gina verschwindet hinter einer Kuppe, mir fehlt seit zwei Stunden die Kraft mit ihr Schritt zu halten. Bereits vor 5km hätten wir aufgrund der Bedingungen ein Camp aufbauen sollen. Der Wind heult nur so, der Pelzbesatz meiner Kapuze ist ein Eisblock, mein Rücken tiefgefroren vom Schweiss. Meine Pulka bleibt zwischen groben Felsen hängen, ich falle und einmal mehr frage ich mich ob Gina überhaupt uns noch auf Kurs hält.

Wir hatten den Tag bei strahlendem Sonnenschein auf der finnischen Kuokkimajärvi Hütte begrüsst, einige Fotos am Treiriksröset geschossen und den See überquert.
Alles lief gut, wir folgten einem Bachlauf und entschieden uns aufgrund von Tiefschnee nichts direkt über den Bergkamm nach Pältsa (STF) zu laufen sondern eine Nacht auf der gemütlichen Gappohytta (DNT) zu verbingen.
Die Aufstiege waren recht ruppig, das Wetter war klar und kalt, der Schnee kompakt, wir machten gut Strecke. Gina war deutlich fitter als ich. Kein Wunder; Marathonläuferin, Trailrunnerin & Jockey.. Meine Vorbereitung beschränkte sich dagegen auf die kalten Tage auf den Engadiner Loipen, zwei Stücke Kuchen und den Verzicht von Fleisch und Alkohol.

Eigentlich war es geplant gewesen von Kilpisjärvi (FIN) nach Abisko (SWE) über den Ovre Dividalen Nationalpark zu laufen, die steilen Aufstiege auf die Plateaus zu meiden und um die engen Täler herum zu gehen. Angesichts von Lawinenwarnstufe 4/5 erschien uns das Isdalsfjellet zu riskant und wir verschoben die Entscheidung über Schweden oder über Norwegen zu gehen auf die Pältsa Hütte.
Ich hatte das Glück bereits zwei Mal im Sommer diesen Landstich zu bereisen und erinnerte mich an das sehr ungemütliche Wetter im Sommer 2017 mit knappen Proviant, dafür hatte ich diesmal eine Essensreserve von +6 Tagen geladen womit ich auf 18 Rationen kam. Beim meiner letzten Querung des Dividalen ging mir das Essen aus und an meinem letzten Tag vor dem Resupply in Innset gab es Gulasch aus der Tüte zum Frühstück. Den Geschmack habe ich noch immer auf der Zunge.
Die Pulka war somit höllisch schwer. Bei meiner Abreise in Oslo einige Wochen später kam ich noch immer auf 54kg; mit sechs verbliebenden Rationen.
Ich liege auf dem Schnee, starre die Rentierflechten an die aus der 20cm dünnen Schneedecke heraus ragen, denke mir «bleib liegen, nur für einen Moment», verspüre Müdigkeit und drücke mich anschiessend doch mit brennenden Muskeln hoch. Meine Ski laufen asymmetrisch. «Nur noch ans Feuer – bring mich ans Feuer» wird zum Mantra, immer wieder glaube ich Gina zu sehen, was natürlich nicht möglich ist da sie genau wie ich weiss trägt. Jeder Stein der aus dem Schneegestöber ragt sieht aus wie ihre Pulka und ich denke mir sie wartet auf mich, also schreie ich ihr zu dass ich ok sei.
Doch Steine antworten nicht. Steine sind neutral. Sie hat vermutlich  einen Vorsprung und ist bereits ca 1km vor der entfernten Gappohytta.
Die Hütte thront, von Finnland kommend auf einem Felsen und kurz bevor man sie erreicht fällt das Gelände steil unter ihr ab. Im Sommer fliesst hier ein recht lebhafter Fluss der von einem kleinen See gespeist wird und in einen weiteren mündet. Der Wasserlauf ist nur an einer Stelle bedingt schwer/einfach zu queren da er viel Wasser führt.
Genau da stehe ich nun. Ich sehe im schwachen Licht die Hütte ca. 80m über mir ragen und bin keine 400m entfernt vom warmen Jotul Ofen. Vor mir fällt das Gelände steil zu einer Wächte ab, das Eis darunter sieht nicht sehr vertrauenserweckend aus. Ich sehe Gina, diesmal wirklich wie sie auf der anderen Seite des Flusses steht und selber rätselt wie sie die Klippe hoch kommen soll. Es ist zu steil. Der Wind der sich langsam zu mehr als einer Böe entwickelt, schluckt jedes Wort. Ich finde keine Spuren und habe keine Ahnung wie sie auf die andere Seite gekommen ist. Mir wird auch langsam kalt, alle meine Müsliriegel in den Taschen sind aufgebraucht, ich spüre die Erschöpfung und schreie vor Frustration gegen den Wind an. Auf meiner letzten grossen Tour habe ich gelernt mit solchen Situationen umzugehen. Ich setze mich kurz auf meine Pulka, denke darüber nach mich einzugraben bis der Wind abflautet. Die Hütte ist direkt vor meinen Augen und ich weiss dass die drei Finnen mit denen wir die vorherige Nacht verbracht haben, bereits aufgeheizt und vielleicht bereits sogar genügend Schnee für köstlichen Kakao geschmolzen haben. Es ist zum Verrückt werden!
Bibbernd auf meiner Pulka sitzend erinnere ich mich an den vergangenen Juli, als ich bei meiner Durchquerung Norwegens zu Fuss, mit meinem Gefährten Kai von der Goldahytta aus zur Gappohytte gelaufen bin. Jeder Bach war eine Wohltat, wir angelten, tauschten Geschichten aus, lachten und sahen die Hütte bereits aus 4km Entfernung. Ich erinnerte mich auch an die Gruppe knausriger Finnen die direkt an der Furt unterhalb der Hütte campierten..
Die Sommerfurt; dass ist es, dort sollte ich sicher queren können! Die Furt bedeutete allerdings einen weiteren Bogen zu schlagen um das grobe Blockwerk zu umgehen. Auch hierbei falle ich immer wieder und denke mir «bleib liegen». Tatsächlich sieht das Eis viel sicherer aus und so folge ich weiter dem was ich als Sommerroute im Kopf habe hinauf zur Hütte. Ganz gleich wie stark ich ziehe, mich ruckartig nach vorne werfe, an einem bestimmten Punkt ist die Steigung einfach zu steil für die Pulka, der Rückwertsgang klemmt auch. Ich schreie und fluche auf vier Sprachen, rufe um Hilfe und sehe tatsächlich Gina in ihrer orangenen XXL Daunenjacke mit der sie aussieht wie das eingefärbte Michelin Männchen nach Südosten gestikulierend. Das ganze ist so makaber dass ich lachen muss, von ihren Worten verstehe ich nur «..ols». Bols? Øls?! Ahhhhhh Poooooooooooles!! Tatsächlich erkenne ich 2m lange hölzerne Stecken auf die ich zu arbeite, jeder Schritt brennt in den Beinen; ich bin wie man im badischen sagt «Zwiebelnudelferdig». Die letzte Anhöhe neheme ich im Zick Zack, Gina kommt mir entgegen, urkomisch sieht sie aus mit den riesigen Polarstiefeln und dem Michelinoutfit, nimmt mir die Pulka ab du schreit gegen den Wind ich soll in die Hütte gehen. Später erzählt sie mir ich sah etwas bleich aus.
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In der Hütte drücken mir unsere finnischen Mitbewohner eine Tasse Kakao in die Hand die ich gierig aufsauge bis ich mich verschlucke und husten muss.
Kennt ihr Lakritze? Seriously. Nur einer von zehn Menschen steht auf das Zeug. Da ich noch immer zittrig bin drückt mir die hübsche Finnin deren Namen eine überproportionale Menge des Buchstabens «i» hat eine ganze Tüte Lakritzstangen in die Hand. Ich lasse mich damit vor dem Ofen auf den Rücken fallen und verdrücke die gesamte Packung 150g Lakritze in unter zwei Minuten.
Das ist mehr Lakritze als ich in meinem ganzen Leben zuvor gegessen habe; um das Zeug mache ich immer einen Bogen. Erst nach zwei Stunden im Bett in meiner Daunenjacke und zwei Tafeln Schokolade bereite ich mir mein Berliner Hafer zu und döse sofort weg.